A.D.
,,Na?" fragt die Leuchtschriftzeile in blinkendem Glitzerrot über einem Geschäft am Flughafen. Na? Wie geht‘s 2000?" Naheliegenderweise verkauft das Geschäft - Uhren, kleine Uhren, große Uhren, digitale, mechanische, nostalgische und futuristische Zeitmesser.
Mein Leben in 2000 ist erstaunlich gewöhnlich. Wenn da nicht die Erinnerung wäre. An die Zeit mit der ,,19" vor dem Jahr. Schon mein Jahreskalender von 1999, den ich 2000 der Einkommensteuererklärung für mein Finanzamt beilegen werde (Reisekostennachweiskontrollmöglichkeit), erinnert mich an Moos, Efeu, Rost, Patina, an mich an jenen Hauch von ,,Ja, Damals", den ich vor 12 Tagen nur alten Postkarten von Wolfgang Mocek und anderen Liebhabern abspürte.
Apropos Liebhaber: Vor dem Jahreswechsel sortierte ich Berge von Briefen. Liebesbriefe von Tanzstundendamen und ihrer Krönung namens Christine, Fürsorge-Briefe meiner Mutter, ermahnende Briefe meines besorgten Großvaters. Die ,,19xx" im Datum der Briefe lassen mich selbst Großvatergefühle fühlen, obwohl keinerlei Enkel in Sicht.
Die ,,99" in den noch älterer Brautbriefen der Großeltern die ich durchstöbere, mein 1899 und somit ist ein solche Brief nicht aus dem vorigen sondern seit 12 Tagen au: dem vorvorigen Jahrhundert. Egal ob Postkarte, Ring, Kommode oder Fachwerkhaus: Alles wirkt seit 12 Tagen ein ganzes Jahrhundert älter. Jedenfalls auf unsere Seele. Rechnerisch erst in - aber das wissen ja nun alle. „Na, wie geht‘s 2000?"
Es wird uns nicht nur gehen wie den Antiquitätenhändlern, die jetzt weit ruckartigere Preisaufschläge verlangen können als die Öl-Multis und der Staat für Benzin bzw. dessen Steuer. Wir werden historische und damit leider abgeschwächtere Gefühle fühlen, wenn wir ab jetzt in den 2000ern an den Ausbruch des 1. oder 2. Weltkrieges im ,,vorigen" Jahrhundert erinnert werden. An das 1000-jährige Reich, an 1945, an den 17. Juni, an die deutsche Wiedervereinigung, an den Tod der Eltern im Jahre 19xx. Wir werden distanzierter erinnert und erinnern und distanzierter fühlen.
,,Wie geht‘s 2000?” Mir geht‘s wie im Spagat-Sitz, den ich physisch nie schaffte, aber psychisch jetzt muss: Noch da in 19. .- und schon hier in den 2000-ern. Die Rechnung mit den 2000 legt eine neue Schicht in unserer Zeitgeschichte.
,,Anni Domini” werden jedoch alle Jahre in dieser Rechnung bleiben. Auch wenn wir immer mehr Menschen treffen, die bei dem ,,A.D." vor einer 2000-er Jahreszahl an ,,Außer Dienst" denken. Oder - wenn sie ,,A.D." vor einer Jahreszahl der 2000-er in einer Schmuckstückgravur lesen - vermuten, dass es einer Annabella Döricht gehört.
11. Januar 2000